Ein frohes Fest euch allen :)
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Ein frohes Fest euch allen :)
Der letzte Wellenläufer
Eine Kurzgeschichte von Dirk Ganser
Veröffentlicht als Bonuskurzgeschichte in der e-bookversion von »Pate der Verlorenen«, Begedia Verlag, 2012, ISBN 3981394658
Kühles Licht spiegelte sich am Aluminium deckenhoher Wandschränke. Das Summen der versteckten Leuchtkörper erfüllte den Raum, der wie eine klinisch saubere Küche eingerichtet war, und vermischte sich mit dem leisen Wummern von Luftumwälzern. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, an dem ein Mann über ein Schachbrett gebeugt saß. Sein Rücken hob und senkte sich im langsamen Takt seiner Atmung. Er hatte sich so weit über das Spielbrett gelehnt, dass ihm seine langen, grauen Haare wie ein Vorhang vor das Gesicht fielen. Der Mann trug einen farblos wirkenden Overall mit einem runden Aufnäher auf der linken Schulter. Vor schwarzem Hintergrund war dort ein stilisierter, silberner Mensch auf einem Surfbrett zu sehen. Dem Zeichen der Wellenläufer.
»Sal?«
Die Stimme drang mit wohlmoduliertem Klang aus versteckten Lautsprechern. Sie erinnerte an einen jungen Mann, obwohl in ihr eine unbestimmbare Künstlichkeit mitschwang.
»Sal? Meine Sensoren zeigen mir, dass deine biologischen Prozesse alle innerhalb normaler Parameter ablaufen. Sie zeigen mir sogar, dass du bis gerade eben geschlafen hast«, fuhr die Stimme vorwurfsvoll fort. Sals Schultern zuckten. »Ich bin enttäuscht, dass du unsere Partie als derartig nervenaufreibend und spannend empfindest, dass du darüber einschläfst.«
»Du kannst nichts fühlen, Hank«, tönte es aus dem Haarvorhang. »Du bist nur eine Maschine, selbst wenn deine Erbauer dir versuchsweise so etwas wie Gefühle einprogrammiert haben.«
»Na und? Das ändert nichts an der Tatsache, dass du meinen Namen wieder mit K statt mit C am Ende ausgesprochen hast. Zudem verändert es nichts an dem Faktum, dass ich dich in fünf Zügen schachmatt setze und du dein Ende mit deiner Siesta unnötig hinauszögerst.«
»Nervensäge«, seufzte Sal.
Der Computer schwieg. Sal zog die weiße Dame quer über das Feld. In einer trotzig wirkenden Geste warf er seine Haare aus dem Gesicht.
»Schach!«
Sal lehnte sich mit einem zufriedenen Grinsen zurück und seine Haare gaben sein Gesicht frei, das aussah wie eine dreidimensionale Landkarte der Zeit. Seine Augen waren wässerig blau und so hell, dass sie beinahe blind wirkten. An seinen Schläfen glitzerten golden zwei implantierte Neurobuchsen auf.
»Na? Hat es dir die Sprache verschlagen, dass ich, eine alte Tankgeburt, deine Molchewin-Verteidigung durchbrochen und gekontert habe?«, fragte Sal mit einem Blick zur Decke, wo eine dunkle Halbkugel Hanc´s Kameraauge verbarg.
»Sal, du sitzt einem gewaltigen Irrtum auf, wenn du glaubst, ich würde mich von dir an der Nase herumführen lassen. Ich habe längst durchschaut, was du vorhast. Du spielst auf Zeit. Aber es wird dir nichts nutzen. König auf A-7.«
Sal runzelte die Stirn und zog den schwarzen König für den Computer.
»Warum sollte ich auf Zeit spielen?« Seine Hand schwebte über seinem letzten Springer. »Wenn ich eines habe, dann ist es Zeit.« Sal schüttelte den Kopf und zog die Hand zurück ohne den Springer zu bewegen. »Du bist meine einzige Gesellschaft, du alte Sabbelkiste.«
»Daran bist du selbst schuld. Wir haben in den letzten fünf Jahren, sechs Monaten, dreiundzwanzig Stunden und vierundvierzig Minuten oft genug darüber gesprochen, dass du zur Erde zurückkehren könntest.«
»Auf diese kalte, kahle Kugel?« Sal schnaufte und schüttelte den Kopf. »Was erwartet mich denn da? Ich bin eine nutzlose Tankgeburt. Nur gezüchtet für eine Aufgabe. Und die haben sie mir auch noch weggenommen.«
»So ist das Leben. Die Technik entwickelt sich weiter, alte Systeme werden durch neue ersetzt … stets bleibt dabei irgendjemand auf der Strecke.«
Sal griff in eine Tasche seiner Kombination und holte einen antiken Tabaksbeutel hervor. Er verbarg seine Verwirrung und schaute intensiv auf seine Finger. Klang da Gereiztheit in Hancs Worten mit? Sicher, der Bordcomputer der kleinen Station war mit Parametern zum Verständnis und zur Simulation menschlicher Gefühle programmiert. Dennoch … er war nur eine Maschine. Sal runzelte die Stirn. Wurde er allmählich verrückt, dass er sich mit einem Haufen Schaltkreisen und Blech anfing zu streiten, als wäre er verheiratet? Er beschloss diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen und nickte nachdenklich.
»Ja, klar. Vierhundert Jahre durften Männer meiner Art den Ponyexpress für die Herrschaften der Hanse spielen.« Sal krümelte eine stark riechende, braungraue Substanz auf einen schmalen Streifen Papier. »Und kaum gibt's was vorgeblich Besseres, wie eben die neuen Hyperpulsgeneratoren zur Nachrichtenübermittlung, werden alte Gäule wie ich und die Werte für die sie stehen, vergessen.«
Hanc zögerte mit seiner Antwort. In einem Anfall von menschlichen Emotionen, die seine Erbauer niemals in einer derartigen Tiefe eingeplant hatten, recherchierte er in seinen Datenbanken, wie oft ihm Sal in den letzten Jahren denselben Blues bereits vorgesungen hatte. Das Ergebnis war ernüchternd. Mindestens einmal pro Stationswoche. Würde es etwas ändern, wenn er Sal darauf hinwies? Wahrscheinlich nicht, wie ihm seine Datenbanken über menschliches Verhalten mitteilten. Außerdem war das ein wesentlicher Bestandteil ihrer Freundschaft, wenn so etwas zwischen einem Menschen und einem Computer überhaupt möglich war.
»Du wurdest nicht vergessen. Du bist freiwillig hier bei mir geblieben. Weitab von Terra, in einer Umlaufbahn um den Saturn.« Hanc zögerte und befragte offenbar seine Sensoren, bevor er weitersprach. »Glaubst du, dein exzessiver Genuss von Tetrahydrocannabinol würde deine Stimmung verbessern?« Sal grinste zur Decke.
»Das heißt Shit, mein Gutester. Außerdem vergisst du eine alte Runnerweisheit. Am Morgen ein Joint und der Tag ist dein Freund.«
Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als er das Papierblättchen mit einer einzigen fließenden Bewegung an seiner Zungenspitze entlangfahren ließ, es gekonnt in den Fingern seiner rechten Hand zu einer Rolle zusammendrehte und zwischen seine Lippen steckte.
»Sal.«
Sal musste über Hanc´s Versuch vorwurfsvoll zu klingen kichern.
»Ja, Dad?«
»Vergiss es. Du hörst doch nicht auf mich.«
»Verdammt richtig. Vergisses, alte Blechkiste.«
Ein wiederverwendbares Streichholz schob sich zwischen Sals Fingern hoch. Ein Schnippen, ein tiefer Zug und Sal verzog in verzücktem Schmerz das Gesicht. Er hielt die Luft an und ließ die Droge wirken. Nach wenigen Sekunden wurden seine Augen groß, seine Wangen blähten sich auf und sein Blick verlor den harten Glanz, den er während des kurzen Gesprächs mit Hanc angenommen hatte. Tränen liefen über sein Gesicht. Hustend stieß er den Rauch aus.
»Holy Shit«, keuchte er und starrte mit einer Mischung aus Angst und Fassungslosigkeit den Sargnagel in seiner Hand an, als wäre er eine getarnte Gravobombe im Taschenformat. »Das nagelt mir die letzten Bronchien aus´m Arsch. Hank, wir müssen dringend deine Umweltkontrollen für die Habitate überprüfen.«
Hancs Stimme klang nach vollendeter Unschuld, als er antwortete.
»Warum?«
»Weil da irgendwas nicht stimmen kann«, keuchte Sal zwischen zwei Hustenstößen. »Bei dem Zeug rollen sich einem die Fußnägel auf.«
»Ach, ist das so? Was ist denn schief gegangen?«
»Keine Ahnung.« Sal hustete erneut herzhaft und wischte sich mit einem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. »Vielleicht ist die Luft Tank zu feucht oder der Dünger zu stark. Wer ist denn hier die Denkerkiste?«
»Ich bin hanC, ein holografisch-asymmetrischer-Neutronen-Computer. Daher, Sal, wird mein Name mit C am Ende geschrieben. Ich bin kein Kinderspielzeug, kein Drogendealer und erst recht kein Cannabisbauer.«
»Stimmt«, keuchte Sal. »Du bist ein hohlköpfiger-arroganter-nimmerstiller-Kasten. Darum wird dein Name von mir auch mit einem K am Ende gesprochen.«
»Nimmerstill?«
»Nimmerstill.«
»Was heißt Nimmerstill?«
Sal atmete tief durch, aber diesmal ohne husten zu müssen.
»Denk drüber nach. Deine Birne ist größer als meine.«
»Rede ich zu viel, Sal?«
Sal stand auf und stöhnte genervt. Der Killerjoint rollte über die Tischkante und fiel zu Boden. Eine kleine diskusförmige Reinigungseinheit schoss aus der Klappe eines Schrankes hervor und saugte den glimmenden Stängel ein. Sal reckte sich und ging zu einem der Vorratsschränke.
»Ich glaube da kommt was.« Hancs Stimme klang beunruhigt.
»Ja, ja«, brummte Sal, während er sich zwischen einer Flasche Whiskey und einem Scotchderivat zu entscheiden versuchte. »Ich wusste gar nicht, dass Computer auch an Flatulenzen oder frühzeitigen Ejakulationen leiden können.« »Ich mache keine Witze. Es nähert sich ein künstliches Objekt. Es kommt von außerhalb des Systems, abseits aller Versorgungsrouten.«
Sal fuhr mit einer Geschwindigkeit herum, die sein offensichtliches Alter Lügen strafte.
»Bitte?«
»Ich bin mir nicht sicher. Die wenigen Daten deuten auf ein sehr kleines Objekt hin. Nicht größer als ein Rettungszylinder.«
»Das muss ich mir ansehen«, rief Sal und stürmte aus der Küche. Die Reinigungseinheit fiepste eine merkwürdige Melodie und fuhr unbeobachtet sinnlose Achten über den Boden. Aus ihren Lüftungsschlitzen drangen ringförmige Qualmwolken.
Sal saß in der Kommandozentrale der Station. Er starrte regungslos auf den Bildschirm vor sich, auf dem er einen silbrig glänzenden Körper, etwa zwei Meter lang und schmal, sah. Es war ein typischer Rettungszylinder, wie er auf allen Hansekoggen eingesetzt wurde. Der Antrieb musste einen gewaltigen Schlag abbekommen haben. Sal sah verbogenes Metall und Rußspuren, wo sich eigentlich eine Strahldüse hätte befinden müssen.
»Kannst du den Zylinder einholen, Hanc?«
In seiner Aufregung vergaß Sal sogar, den Namen seines Computerfreundes mit K am Ende auszusprechen.
»Ja. Die Zugfeldgeneratoren laufen bereits warm. In einer Stunde ist er nahe genug, dass ich ihn mit einem Zugstrahl einfangen kann.«
Sal nickte.
»Gut. Bin gespannt wer oder was da drin ist.«
»Danke, dass du meinen Namen endlich korrekt aussprichst.«
»Kein Problem.«
Sal stand auf, griff sich an den Rücken und dehnte vorsichtig seine Muskeln.
»Mach bitte vorsichtshalber meinen Anzug fertig und überspiele mir meine Musikdaten auf den Speicher. Vielleicht muss ich noch einmal aufs Board klettern.«
Ein Seufzen kam aus den Lautsprechern.
»Den archaischen Krach, den du Musik nennst?«
»Du bist eben doch nur ein Haufen Blech und Schaltkreise. Du hast keinen blassen Schimmer von Kultur. Diesen archaischen Krach, wie du ihn nennst, haben bereits meine Vorfahren zu einer Zeit gehört, als die noch nicht wussten, dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist.« Sal stutzte kurz. »Oder zumindest die Vorfahren von demjenigen, der sein Erbmaterial für meine Zucht gespendet hat. Es hat also Tradition, dass ein Wellenläufer immer mit guter Musik unterwegs ist. Und so etwas muss heutzutage eben bewahrt werden.«
Hanc gab es auf, Sal von den Vorzügen richtiger Musik zu überzeugen.
»Wie du willst, Sal. Dann also unmodulierter Krach für die Ohren des alten Mannes.«
Eine Stunde später stand Sal in der Luftschleuse des Versorgungsdocks. Er konnte seinen Blick nicht von dem eingeholten Zylinder abwenden. Ein Schild verriet ihm, dass er von der Hansekogge Silverstar stammte, einem Schiff aus dem Alpha Centauri System. Das warf Sal aber nicht aus der Bahn. Es war der Inhalt des Zylinders, der ihm die Sprache raubte. In dem kleinen Rettungsschiff lag der tote Körper eines Navigators. Die sterblichen Überreste jener sagenumwobenen In-vitro-Züchtungen, die es als einzige schafften, gemeinsam mit den Bordcomputern die komplizierten Berechnungen für einen sicheren Kurs der Hansekoggen durchzuführen. Der durchsichtige Behälter musste ein Leck haben, denn Navigatoren lebten in einer Atmosphäre aus Gaskombinationen, die für jeden Menschen tödlich wären. Vom Kopf des Navigators hingen abgerissene Kabel wie metallene Tentakel. Sal zitterte und konnte den Blick trotz seines Widerwillens nicht abwenden.
»Hank. Siehst du, was ich sehe?«
»Ja. Einen toten Navigator.«
Sal schüttelte den Kopf.
»Ich sehe den Körper eines Säuglings mit dem deformierten Schädel eines Greises und der schrumpeligen Haut einer Mumie.«
»So sehen Navigatoren eben außerhalb ihrer Habitattanks aus.«
Sal schluckte.
»Ich muss für meine Stammgene dankbar sein, die nur für einen Wellenläufer reichten.«
»So kann man es auch sehen.«
»Erkennst du irgendwelche Nachrichtenbehälter? Ich möchte dem Ding nicht näher kommen, als unbedingt notwendig.« Sal erschauerte. »Und anfassen will ich es erst recht nicht.«
»Meine Scanner erkennen keine Nachrichtenbox. Allerdings spielt das Rechnersystem der Einheit eine sich ständig wiederholende Signalfolge ab, die ich als Morsezeichen interpretiere.«
»Kannst du sie übersetzen?«
»Das habe ich bereits, Sal. Es ist ein Hilferuf und eine Warnung. Ein Minenmond ist durch eine Explosion instabilen Ilithiums explodiert. Vermutlich ein Sabotageakt. Die Folge könnte außer einer monströsen Gravowelle, auch eine Verschiebung der Eintauchpunkte sein. Die Nachricht muss umgehend an das hohe Hansekommissariat übergeben werden.«
Sal nickte.
»Ist die Funkanlage noch defekt?«
»Seit du sie so kreativ zertrümmert hast?« Das elektronische Äquivalent eines Auflachens drang aus den Lautsprechern.
»Ja, Sal. Ohne Ersatzteile kann ich sie nicht reparieren.«
Ein Grinsen huschte über Sals Gesicht.
»Dann ist es beschlossene Sache. Der alte Sal läuft mal wieder eine Welle ab.«
»Sal? Mir ist nicht wohl bei der der Sache. In dreißig Minuten trifft den Messwerten zufolge eine ungewöhnlich starke Gravowelle ein. Die Impulse der Welle deuten darauf hin, dass die Explosion des Minenmondes sie tatsächlich zu einem Gravo-Tsunami verstärkt hat.« Hanc zögerte und berechnete in Sekundenbruchteilen noch einmal alle Daten, bevor er fortfuhr. »Sal, die Welle hat eine Stärke, wie sie sonst nur in unmittelbarer Nähe des Galaxiskerns vorkommt.«
»Es kommt eine Monsterwelle?« Ein breites Grinsen teilte Sals Gesicht fast in zwei Hälften. »Baby, zieh´ deinen Bikini an, wachse mein Board und mach alles startklar. Überspiele die Nachricht decodiert auf einen Speicherkristall.«
»Du bist seit über fünf Jahren nicht gelaufen!«
»Und?«
»Ich mache mir Sorgen.«
Sal lachte leise.
»Verschwendete Rechnerkapazität, mein Junge. Ich laufe die Welle nur bis auf Höhe der Mondumlaufbahn über Terra ab, sage den Jungs von der Station dort Bescheid und setze den Kristall ab, damit sie ihn einfangen können. Ich achte auf den Verkehr und halte mich von der Hauptverkehrsroute eins Alpha fern. Dann komme ich mit der Rückwelle wieder her und wir spielen unsere Partie zu Ende.«
Hanc schwieg und behielt seine Zweifel für sich. Sal würde das sowieso nicht verstehen.
Zwanzig Minuten später schwebte Sal vor der kleinen Station im All. Seine Füße hatte er in Schlaufen verhakt, die ihn auf der Oberseite seines Waverunnerboards festhielten. Die seitlichen Ausleger am langgezogenen Oval des Boards summten. In ihnen waren die Lebenserhaltungssysteme untergebracht, die Sal trotz seines speziell gezüchteten Körpers benötigte, um dem enormen Andruck der Gravowelle und den harten Strahlen des Weltalls widerstehen zu können. Sal rief ein letztes Mal über sein Multifunktionsarmband alle Daten ab. Über ihm schwebte drohend und mächtig der Saturn und die ferne Sonne spiegelte sich im getönten Visier seines Raumanzugs. Zwei Kabel führten vom Board durch seinen Helm zu den Buchsen an seinen Schläfen.
»Sal? Bist du dir auch sicher?«
»Warum fragst du, Hanc?«
»Die Welle, die gleich kommt, ist stärker als alle, die jemals ein Wellenläufer abgeritten hat.«
Sal grinste.
»Cool.«
»Sal? Kommst du auch zurück?«
War da Schmerz in Hancs Stimme? Sal zog verwirrt die Stirn kraus.
»Ja natürlich, Hanc. Ich habe es dir versprochen.«
Ein Vibrieren ließ Sal´s Board erzittern, erfasste seine Füße und spülte alte Glücksgefühle in ihm hoch. Ein Lauf stand bevor. Abenteuer und Daseinszweck zugleich. Ein Leben, nur diesen einen Moment gezüchtet.
Sein Leben.
Ein Gefühl tiefster Zufriedenheit und Ruhe erfasste Sal, während er in die Knie ging, um die Welle mit Eleganz zu nehmen.
»Sie kommt, Hanc, sie kommt!«
»Ja Sal.«
»Oh Mann, das wird ein geiler Lauf!«
»Bestimmt, Sal.«
Das Vibrieren verstärkte sich zum Zittern eines mühsam im Zaum gehaltenen antiken Verbrennungsmotors. Sal griff an sein Handgelenk und startete die Wiedergabe seiner Lieblingsmusik. Die Beach Boys, seit Jahrhunderten nur noch Staub und Asche, stimmten in ohrenbetäubender Lautstärke ihren Hit Surfin´ USA an. Dann erfasste die Gravowelle Sal und sein Board. Mit einem Aufschrei der Freude nahm er die Kraft hin, dirigierte nur mit seinen Beinen das Board und versuchte auf der Spitze der Welle zu bleiben. Nach wenigen Augenblicken war er nur noch ein kleiner Punkt im All. Dann verschwand er vollends aus der Reichweite von Hancs Sensoren.
»Bis bald, Sal.«
Auf der kombinierten Minen- und Überwachungsstation Miami Beach des terranischen Mondes schrillten die Alarmsirenen. Es waren nicht die Signalfolgen für ein Problem beim Abbau des Helium3 oder ein Angriffsalarm, der die Jägerstaffeln binnen Sekunden auf den Plan gerufen hätte. Es war die Signalfolge, die das Eintreffen einer ungewöhnlich starken Gravitationswelle ankündigte. Ein Ereignis, das theoretisch zwar möglich, aber in der Praxis noch nie vorgekommen war.
Der leitende Technikingenieur Killian rannte nur in Boxershorts bekleidet in die Zentrale. Wenn sich irgendein Idiot hier einen Spaß erlaubte und mit den Knöpfen für Probealarme rumgespielt hatte, würde er persönlich dafür sorgen, dass der Schuldige seinen Dienst nach dem nächsten Wachwechsel auf Io absolvieren durfte.
»Meldung«, brüllte er im gewohnten Kasernenhofton
»Sir«, meldete ein junger Techniker. »Eine Gravowelle ungewöhnlichen Ausmaßes rast auf uns zu.«
Killian verbiss sich eine Mischung aus überraschtem Ausruf und Fluch. Haltung wahren, hieß die Devise.
»Schilde hoch«, bellte er und hoffte, dass die Generatoren, die ein Schwerkraftfeld entgegen der Kraft der Welle aufbauen sollten, auch wirklich funktionierten. Das hier war schließlich der Mond, und keine Kogge, die unter dem Beschuss von Gaussgeschoßen stand. Wann kamen die Schilde denn jemals zum Einsatz? Für einen Moment verfluchte er seine Nachlässigkeit bei der Erstellung der Wartungspläne. Hoffentlich funktionierten die Generatoren trotzdem.
»Alarm ist bereits durchgegeben, Sir. Die Generatoren laufen warm.«
Auf den Schirmen sah Killian feine Staubwolken vom Mondboden aufsteigen.
»Schilde bauen sich auf, Sir.«
Sand und Steine tanzten unter der herannahenden Kraft. Die Station erzitterte und in Gedanken sandte Killian ein Stoßgebet an alle Götter, die die Menschen jemals verehrt hatten.
»Schilde stehen, Sir«, meldete der junge Techniker. Killian atmete leise durch. Sein Blick wanderte unwillkürlich zu der Anzeige, auf der die Minuten bis zum Eintreffen der Monsterwelle abgezählt wurden.
»Sir, die Erdstationen melden, dass ihre Schilde ebenfalls stehen.«
Killian nickte nur. Sein Blick wanderte unruhig zwischen der Uhr und den Bildschirmen hin und her. Die Staubwolken auf dem Mondboden wurden dichter, die Bilder erzitterten immer stärker. Täuschte er sich, oder vibrierte inzwischen sogar der Boden unter seinen Füßen?
»Alle Relaisstationen melden volle Einsatzbereitschaft.« Killian bemerkte nicht die fehlende Anrede des jungen Mannes. Die Station erbebte inzwischen und nur mit Mühe konnte er sich am Sitz des Technikers festhalten. Das war wirklich eine Monsterwelle, und sie kam genau … jetzt!
Ein Schlag riss Killian beinahe von den Füßen. Alarmglocken schrillten durch die Station. Hektisch sah er sich um, ob auf der in der Zentrale nichts zu Bruch gegangen war.
»WOW!«
Der Ausruf des Technikers riss ihn aus seinen Gedanken.
»WAS?«, herrschte Killian. Das Beben hatte nachgelassen und er konnte fand wieder zu seiner alten Fassung zurück.
»Entschuldigung, Sir. Die Welle hat irgendetwas mitgerissen, das auf direktem Kollisionskurs mit uns war, Sir. Was es auch gewesen sein mag, es ist entweder am Schirm zwischen den Kräften zerrissen oder weit auf einen Kurs weit jenseits des Systems hinausgeschleudert worden.«
»Irgendwelche Schäden?«
»Nein, Sir. Dafür war das Objekt zu klein.«
»Ist etwas zur Erde durchgekommen?«
»Nein Sir. Deren Schilde waren ebenfalls schnell genug oben.«
»Gut. Rufen Sie mich, wenn wir vom Wissenschaftskommissariat Meldung bekommen. Bei allen Sonnen, ich will wissen, was das für eine Monsterwelle war und warum die so eine Wucht hatte. Und achten sie auf die Rückwelle.« Killian wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die wird zwar weniger heftig, dennoch ...«
»Ja, Sir. Verstanden, Sir.«
»Weitermachen, Techniker Beard.«
In der kleinen Stationsküche war es still. Nur das Summen der Lichtröhren war zu hören. Ihr Licht ließ die Figuren kleine Schatten auf das verlassene Schachbrett werfen. Der Reinigungsrobot stand still neben dem Tisch, so als würde er auf einen weiteren Joint warten. Hanc´s Stimme erklang.
»Welchen Zug planst du als nächstes, Sal? Wie glaubst du, dass du meine Verteidigung durchbrechen kannst? Vielleicht mit Dame A-5? Oder Turm D-1?« Ein elektronisches Seufzen folgte. »Du fehlst mir Sal. Komm schnell zurück, du letzter Wellenläufer.«
Eine Kurzgeschichte von Dirk Ganser
Veröffentlicht als Bonuskurzgeschichte in der e-bookversion von »Pate der Verlorenen«, Begedia Verlag, 2012, ISBN 3981394658
Kühles Licht spiegelte sich am Aluminium deckenhoher Wandschränke. Das Summen der versteckten Leuchtkörper erfüllte den Raum, der wie eine klinisch saubere Küche eingerichtet war, und vermischte sich mit dem leisen Wummern von Luftumwälzern. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, an dem ein Mann über ein Schachbrett gebeugt saß. Sein Rücken hob und senkte sich im langsamen Takt seiner Atmung. Er hatte sich so weit über das Spielbrett gelehnt, dass ihm seine langen, grauen Haare wie ein Vorhang vor das Gesicht fielen. Der Mann trug einen farblos wirkenden Overall mit einem runden Aufnäher auf der linken Schulter. Vor schwarzem Hintergrund war dort ein stilisierter, silberner Mensch auf einem Surfbrett zu sehen. Dem Zeichen der Wellenläufer.
»Sal?«
Die Stimme drang mit wohlmoduliertem Klang aus versteckten Lautsprechern. Sie erinnerte an einen jungen Mann, obwohl in ihr eine unbestimmbare Künstlichkeit mitschwang.
»Sal? Meine Sensoren zeigen mir, dass deine biologischen Prozesse alle innerhalb normaler Parameter ablaufen. Sie zeigen mir sogar, dass du bis gerade eben geschlafen hast«, fuhr die Stimme vorwurfsvoll fort. Sals Schultern zuckten. »Ich bin enttäuscht, dass du unsere Partie als derartig nervenaufreibend und spannend empfindest, dass du darüber einschläfst.«
»Du kannst nichts fühlen, Hank«, tönte es aus dem Haarvorhang. »Du bist nur eine Maschine, selbst wenn deine Erbauer dir versuchsweise so etwas wie Gefühle einprogrammiert haben.«
»Na und? Das ändert nichts an der Tatsache, dass du meinen Namen wieder mit K statt mit C am Ende ausgesprochen hast. Zudem verändert es nichts an dem Faktum, dass ich dich in fünf Zügen schachmatt setze und du dein Ende mit deiner Siesta unnötig hinauszögerst.«
»Nervensäge«, seufzte Sal.
Der Computer schwieg. Sal zog die weiße Dame quer über das Feld. In einer trotzig wirkenden Geste warf er seine Haare aus dem Gesicht.
»Schach!«
Sal lehnte sich mit einem zufriedenen Grinsen zurück und seine Haare gaben sein Gesicht frei, das aussah wie eine dreidimensionale Landkarte der Zeit. Seine Augen waren wässerig blau und so hell, dass sie beinahe blind wirkten. An seinen Schläfen glitzerten golden zwei implantierte Neurobuchsen auf.
»Na? Hat es dir die Sprache verschlagen, dass ich, eine alte Tankgeburt, deine Molchewin-Verteidigung durchbrochen und gekontert habe?«, fragte Sal mit einem Blick zur Decke, wo eine dunkle Halbkugel Hanc´s Kameraauge verbarg.
»Sal, du sitzt einem gewaltigen Irrtum auf, wenn du glaubst, ich würde mich von dir an der Nase herumführen lassen. Ich habe längst durchschaut, was du vorhast. Du spielst auf Zeit. Aber es wird dir nichts nutzen. König auf A-7.«
Sal runzelte die Stirn und zog den schwarzen König für den Computer.
»Warum sollte ich auf Zeit spielen?« Seine Hand schwebte über seinem letzten Springer. »Wenn ich eines habe, dann ist es Zeit.« Sal schüttelte den Kopf und zog die Hand zurück ohne den Springer zu bewegen. »Du bist meine einzige Gesellschaft, du alte Sabbelkiste.«
»Daran bist du selbst schuld. Wir haben in den letzten fünf Jahren, sechs Monaten, dreiundzwanzig Stunden und vierundvierzig Minuten oft genug darüber gesprochen, dass du zur Erde zurückkehren könntest.«
»Auf diese kalte, kahle Kugel?« Sal schnaufte und schüttelte den Kopf. »Was erwartet mich denn da? Ich bin eine nutzlose Tankgeburt. Nur gezüchtet für eine Aufgabe. Und die haben sie mir auch noch weggenommen.«
»So ist das Leben. Die Technik entwickelt sich weiter, alte Systeme werden durch neue ersetzt … stets bleibt dabei irgendjemand auf der Strecke.«
Sal griff in eine Tasche seiner Kombination und holte einen antiken Tabaksbeutel hervor. Er verbarg seine Verwirrung und schaute intensiv auf seine Finger. Klang da Gereiztheit in Hancs Worten mit? Sicher, der Bordcomputer der kleinen Station war mit Parametern zum Verständnis und zur Simulation menschlicher Gefühle programmiert. Dennoch … er war nur eine Maschine. Sal runzelte die Stirn. Wurde er allmählich verrückt, dass er sich mit einem Haufen Schaltkreisen und Blech anfing zu streiten, als wäre er verheiratet? Er beschloss diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen und nickte nachdenklich.
»Ja, klar. Vierhundert Jahre durften Männer meiner Art den Ponyexpress für die Herrschaften der Hanse spielen.« Sal krümelte eine stark riechende, braungraue Substanz auf einen schmalen Streifen Papier. »Und kaum gibt's was vorgeblich Besseres, wie eben die neuen Hyperpulsgeneratoren zur Nachrichtenübermittlung, werden alte Gäule wie ich und die Werte für die sie stehen, vergessen.«
Hanc zögerte mit seiner Antwort. In einem Anfall von menschlichen Emotionen, die seine Erbauer niemals in einer derartigen Tiefe eingeplant hatten, recherchierte er in seinen Datenbanken, wie oft ihm Sal in den letzten Jahren denselben Blues bereits vorgesungen hatte. Das Ergebnis war ernüchternd. Mindestens einmal pro Stationswoche. Würde es etwas ändern, wenn er Sal darauf hinwies? Wahrscheinlich nicht, wie ihm seine Datenbanken über menschliches Verhalten mitteilten. Außerdem war das ein wesentlicher Bestandteil ihrer Freundschaft, wenn so etwas zwischen einem Menschen und einem Computer überhaupt möglich war.
»Du wurdest nicht vergessen. Du bist freiwillig hier bei mir geblieben. Weitab von Terra, in einer Umlaufbahn um den Saturn.« Hanc zögerte und befragte offenbar seine Sensoren, bevor er weitersprach. »Glaubst du, dein exzessiver Genuss von Tetrahydrocannabinol würde deine Stimmung verbessern?« Sal grinste zur Decke.
»Das heißt Shit, mein Gutester. Außerdem vergisst du eine alte Runnerweisheit. Am Morgen ein Joint und der Tag ist dein Freund.«
Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, als er das Papierblättchen mit einer einzigen fließenden Bewegung an seiner Zungenspitze entlangfahren ließ, es gekonnt in den Fingern seiner rechten Hand zu einer Rolle zusammendrehte und zwischen seine Lippen steckte.
»Sal.«
Sal musste über Hanc´s Versuch vorwurfsvoll zu klingen kichern.
»Ja, Dad?«
»Vergiss es. Du hörst doch nicht auf mich.«
»Verdammt richtig. Vergisses, alte Blechkiste.«
Ein wiederverwendbares Streichholz schob sich zwischen Sals Fingern hoch. Ein Schnippen, ein tiefer Zug und Sal verzog in verzücktem Schmerz das Gesicht. Er hielt die Luft an und ließ die Droge wirken. Nach wenigen Sekunden wurden seine Augen groß, seine Wangen blähten sich auf und sein Blick verlor den harten Glanz, den er während des kurzen Gesprächs mit Hanc angenommen hatte. Tränen liefen über sein Gesicht. Hustend stieß er den Rauch aus.
»Holy Shit«, keuchte er und starrte mit einer Mischung aus Angst und Fassungslosigkeit den Sargnagel in seiner Hand an, als wäre er eine getarnte Gravobombe im Taschenformat. »Das nagelt mir die letzten Bronchien aus´m Arsch. Hank, wir müssen dringend deine Umweltkontrollen für die Habitate überprüfen.«
Hancs Stimme klang nach vollendeter Unschuld, als er antwortete.
»Warum?«
»Weil da irgendwas nicht stimmen kann«, keuchte Sal zwischen zwei Hustenstößen. »Bei dem Zeug rollen sich einem die Fußnägel auf.«
»Ach, ist das so? Was ist denn schief gegangen?«
»Keine Ahnung.« Sal hustete erneut herzhaft und wischte sich mit einem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht. »Vielleicht ist die Luft Tank zu feucht oder der Dünger zu stark. Wer ist denn hier die Denkerkiste?«
»Ich bin hanC, ein holografisch-asymmetrischer-Neutronen-Computer. Daher, Sal, wird mein Name mit C am Ende geschrieben. Ich bin kein Kinderspielzeug, kein Drogendealer und erst recht kein Cannabisbauer.«
»Stimmt«, keuchte Sal. »Du bist ein hohlköpfiger-arroganter-nimmerstiller-Kasten. Darum wird dein Name von mir auch mit einem K am Ende gesprochen.«
»Nimmerstill?«
»Nimmerstill.«
»Was heißt Nimmerstill?«
Sal atmete tief durch, aber diesmal ohne husten zu müssen.
»Denk drüber nach. Deine Birne ist größer als meine.«
»Rede ich zu viel, Sal?«
Sal stand auf und stöhnte genervt. Der Killerjoint rollte über die Tischkante und fiel zu Boden. Eine kleine diskusförmige Reinigungseinheit schoss aus der Klappe eines Schrankes hervor und saugte den glimmenden Stängel ein. Sal reckte sich und ging zu einem der Vorratsschränke.
»Ich glaube da kommt was.« Hancs Stimme klang beunruhigt.
»Ja, ja«, brummte Sal, während er sich zwischen einer Flasche Whiskey und einem Scotchderivat zu entscheiden versuchte. »Ich wusste gar nicht, dass Computer auch an Flatulenzen oder frühzeitigen Ejakulationen leiden können.« »Ich mache keine Witze. Es nähert sich ein künstliches Objekt. Es kommt von außerhalb des Systems, abseits aller Versorgungsrouten.«
Sal fuhr mit einer Geschwindigkeit herum, die sein offensichtliches Alter Lügen strafte.
»Bitte?«
»Ich bin mir nicht sicher. Die wenigen Daten deuten auf ein sehr kleines Objekt hin. Nicht größer als ein Rettungszylinder.«
»Das muss ich mir ansehen«, rief Sal und stürmte aus der Küche. Die Reinigungseinheit fiepste eine merkwürdige Melodie und fuhr unbeobachtet sinnlose Achten über den Boden. Aus ihren Lüftungsschlitzen drangen ringförmige Qualmwolken.
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Sal saß in der Kommandozentrale der Station. Er starrte regungslos auf den Bildschirm vor sich, auf dem er einen silbrig glänzenden Körper, etwa zwei Meter lang und schmal, sah. Es war ein typischer Rettungszylinder, wie er auf allen Hansekoggen eingesetzt wurde. Der Antrieb musste einen gewaltigen Schlag abbekommen haben. Sal sah verbogenes Metall und Rußspuren, wo sich eigentlich eine Strahldüse hätte befinden müssen.
»Kannst du den Zylinder einholen, Hanc?«
In seiner Aufregung vergaß Sal sogar, den Namen seines Computerfreundes mit K am Ende auszusprechen.
»Ja. Die Zugfeldgeneratoren laufen bereits warm. In einer Stunde ist er nahe genug, dass ich ihn mit einem Zugstrahl einfangen kann.«
Sal nickte.
»Gut. Bin gespannt wer oder was da drin ist.«
»Danke, dass du meinen Namen endlich korrekt aussprichst.«
»Kein Problem.«
Sal stand auf, griff sich an den Rücken und dehnte vorsichtig seine Muskeln.
»Mach bitte vorsichtshalber meinen Anzug fertig und überspiele mir meine Musikdaten auf den Speicher. Vielleicht muss ich noch einmal aufs Board klettern.«
Ein Seufzen kam aus den Lautsprechern.
»Den archaischen Krach, den du Musik nennst?«
»Du bist eben doch nur ein Haufen Blech und Schaltkreise. Du hast keinen blassen Schimmer von Kultur. Diesen archaischen Krach, wie du ihn nennst, haben bereits meine Vorfahren zu einer Zeit gehört, als die noch nicht wussten, dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist.« Sal stutzte kurz. »Oder zumindest die Vorfahren von demjenigen, der sein Erbmaterial für meine Zucht gespendet hat. Es hat also Tradition, dass ein Wellenläufer immer mit guter Musik unterwegs ist. Und so etwas muss heutzutage eben bewahrt werden.«
Hanc gab es auf, Sal von den Vorzügen richtiger Musik zu überzeugen.
»Wie du willst, Sal. Dann also unmodulierter Krach für die Ohren des alten Mannes.«
***
Eine Stunde später stand Sal in der Luftschleuse des Versorgungsdocks. Er konnte seinen Blick nicht von dem eingeholten Zylinder abwenden. Ein Schild verriet ihm, dass er von der Hansekogge Silverstar stammte, einem Schiff aus dem Alpha Centauri System. Das warf Sal aber nicht aus der Bahn. Es war der Inhalt des Zylinders, der ihm die Sprache raubte. In dem kleinen Rettungsschiff lag der tote Körper eines Navigators. Die sterblichen Überreste jener sagenumwobenen In-vitro-Züchtungen, die es als einzige schafften, gemeinsam mit den Bordcomputern die komplizierten Berechnungen für einen sicheren Kurs der Hansekoggen durchzuführen. Der durchsichtige Behälter musste ein Leck haben, denn Navigatoren lebten in einer Atmosphäre aus Gaskombinationen, die für jeden Menschen tödlich wären. Vom Kopf des Navigators hingen abgerissene Kabel wie metallene Tentakel. Sal zitterte und konnte den Blick trotz seines Widerwillens nicht abwenden.
»Hank. Siehst du, was ich sehe?«
»Ja. Einen toten Navigator.«
Sal schüttelte den Kopf.
»Ich sehe den Körper eines Säuglings mit dem deformierten Schädel eines Greises und der schrumpeligen Haut einer Mumie.«
»So sehen Navigatoren eben außerhalb ihrer Habitattanks aus.«
Sal schluckte.
»Ich muss für meine Stammgene dankbar sein, die nur für einen Wellenläufer reichten.«
»So kann man es auch sehen.«
»Erkennst du irgendwelche Nachrichtenbehälter? Ich möchte dem Ding nicht näher kommen, als unbedingt notwendig.« Sal erschauerte. »Und anfassen will ich es erst recht nicht.«
»Meine Scanner erkennen keine Nachrichtenbox. Allerdings spielt das Rechnersystem der Einheit eine sich ständig wiederholende Signalfolge ab, die ich als Morsezeichen interpretiere.«
»Kannst du sie übersetzen?«
»Das habe ich bereits, Sal. Es ist ein Hilferuf und eine Warnung. Ein Minenmond ist durch eine Explosion instabilen Ilithiums explodiert. Vermutlich ein Sabotageakt. Die Folge könnte außer einer monströsen Gravowelle, auch eine Verschiebung der Eintauchpunkte sein. Die Nachricht muss umgehend an das hohe Hansekommissariat übergeben werden.«
Sal nickte.
»Ist die Funkanlage noch defekt?«
»Seit du sie so kreativ zertrümmert hast?« Das elektronische Äquivalent eines Auflachens drang aus den Lautsprechern.
»Ja, Sal. Ohne Ersatzteile kann ich sie nicht reparieren.«
Ein Grinsen huschte über Sals Gesicht.
»Dann ist es beschlossene Sache. Der alte Sal läuft mal wieder eine Welle ab.«
»Sal? Mir ist nicht wohl bei der der Sache. In dreißig Minuten trifft den Messwerten zufolge eine ungewöhnlich starke Gravowelle ein. Die Impulse der Welle deuten darauf hin, dass die Explosion des Minenmondes sie tatsächlich zu einem Gravo-Tsunami verstärkt hat.« Hanc zögerte und berechnete in Sekundenbruchteilen noch einmal alle Daten, bevor er fortfuhr. »Sal, die Welle hat eine Stärke, wie sie sonst nur in unmittelbarer Nähe des Galaxiskerns vorkommt.«
»Es kommt eine Monsterwelle?« Ein breites Grinsen teilte Sals Gesicht fast in zwei Hälften. »Baby, zieh´ deinen Bikini an, wachse mein Board und mach alles startklar. Überspiele die Nachricht decodiert auf einen Speicherkristall.«
»Du bist seit über fünf Jahren nicht gelaufen!«
»Und?«
»Ich mache mir Sorgen.«
Sal lachte leise.
»Verschwendete Rechnerkapazität, mein Junge. Ich laufe die Welle nur bis auf Höhe der Mondumlaufbahn über Terra ab, sage den Jungs von der Station dort Bescheid und setze den Kristall ab, damit sie ihn einfangen können. Ich achte auf den Verkehr und halte mich von der Hauptverkehrsroute eins Alpha fern. Dann komme ich mit der Rückwelle wieder her und wir spielen unsere Partie zu Ende.«
Hanc schwieg und behielt seine Zweifel für sich. Sal würde das sowieso nicht verstehen.
***
Zwanzig Minuten später schwebte Sal vor der kleinen Station im All. Seine Füße hatte er in Schlaufen verhakt, die ihn auf der Oberseite seines Waverunnerboards festhielten. Die seitlichen Ausleger am langgezogenen Oval des Boards summten. In ihnen waren die Lebenserhaltungssysteme untergebracht, die Sal trotz seines speziell gezüchteten Körpers benötigte, um dem enormen Andruck der Gravowelle und den harten Strahlen des Weltalls widerstehen zu können. Sal rief ein letztes Mal über sein Multifunktionsarmband alle Daten ab. Über ihm schwebte drohend und mächtig der Saturn und die ferne Sonne spiegelte sich im getönten Visier seines Raumanzugs. Zwei Kabel führten vom Board durch seinen Helm zu den Buchsen an seinen Schläfen.
»Sal? Bist du dir auch sicher?«
»Warum fragst du, Hanc?«
»Die Welle, die gleich kommt, ist stärker als alle, die jemals ein Wellenläufer abgeritten hat.«
Sal grinste.
»Cool.«
»Sal? Kommst du auch zurück?«
War da Schmerz in Hancs Stimme? Sal zog verwirrt die Stirn kraus.
»Ja natürlich, Hanc. Ich habe es dir versprochen.«
Ein Vibrieren ließ Sal´s Board erzittern, erfasste seine Füße und spülte alte Glücksgefühle in ihm hoch. Ein Lauf stand bevor. Abenteuer und Daseinszweck zugleich. Ein Leben, nur diesen einen Moment gezüchtet.
Sein Leben.
Ein Gefühl tiefster Zufriedenheit und Ruhe erfasste Sal, während er in die Knie ging, um die Welle mit Eleganz zu nehmen.
»Sie kommt, Hanc, sie kommt!«
»Ja Sal.«
»Oh Mann, das wird ein geiler Lauf!«
»Bestimmt, Sal.«
Das Vibrieren verstärkte sich zum Zittern eines mühsam im Zaum gehaltenen antiken Verbrennungsmotors. Sal griff an sein Handgelenk und startete die Wiedergabe seiner Lieblingsmusik. Die Beach Boys, seit Jahrhunderten nur noch Staub und Asche, stimmten in ohrenbetäubender Lautstärke ihren Hit Surfin´ USA an. Dann erfasste die Gravowelle Sal und sein Board. Mit einem Aufschrei der Freude nahm er die Kraft hin, dirigierte nur mit seinen Beinen das Board und versuchte auf der Spitze der Welle zu bleiben. Nach wenigen Augenblicken war er nur noch ein kleiner Punkt im All. Dann verschwand er vollends aus der Reichweite von Hancs Sensoren.
»Bis bald, Sal.«
***
Auf der kombinierten Minen- und Überwachungsstation Miami Beach des terranischen Mondes schrillten die Alarmsirenen. Es waren nicht die Signalfolgen für ein Problem beim Abbau des Helium3 oder ein Angriffsalarm, der die Jägerstaffeln binnen Sekunden auf den Plan gerufen hätte. Es war die Signalfolge, die das Eintreffen einer ungewöhnlich starken Gravitationswelle ankündigte. Ein Ereignis, das theoretisch zwar möglich, aber in der Praxis noch nie vorgekommen war.
Der leitende Technikingenieur Killian rannte nur in Boxershorts bekleidet in die Zentrale. Wenn sich irgendein Idiot hier einen Spaß erlaubte und mit den Knöpfen für Probealarme rumgespielt hatte, würde er persönlich dafür sorgen, dass der Schuldige seinen Dienst nach dem nächsten Wachwechsel auf Io absolvieren durfte.
»Meldung«, brüllte er im gewohnten Kasernenhofton
»Sir«, meldete ein junger Techniker. »Eine Gravowelle ungewöhnlichen Ausmaßes rast auf uns zu.«
Killian verbiss sich eine Mischung aus überraschtem Ausruf und Fluch. Haltung wahren, hieß die Devise.
»Schilde hoch«, bellte er und hoffte, dass die Generatoren, die ein Schwerkraftfeld entgegen der Kraft der Welle aufbauen sollten, auch wirklich funktionierten. Das hier war schließlich der Mond, und keine Kogge, die unter dem Beschuss von Gaussgeschoßen stand. Wann kamen die Schilde denn jemals zum Einsatz? Für einen Moment verfluchte er seine Nachlässigkeit bei der Erstellung der Wartungspläne. Hoffentlich funktionierten die Generatoren trotzdem.
»Alarm ist bereits durchgegeben, Sir. Die Generatoren laufen warm.«
Auf den Schirmen sah Killian feine Staubwolken vom Mondboden aufsteigen.
»Schilde bauen sich auf, Sir.«
Sand und Steine tanzten unter der herannahenden Kraft. Die Station erzitterte und in Gedanken sandte Killian ein Stoßgebet an alle Götter, die die Menschen jemals verehrt hatten.
»Schilde stehen, Sir«, meldete der junge Techniker. Killian atmete leise durch. Sein Blick wanderte unwillkürlich zu der Anzeige, auf der die Minuten bis zum Eintreffen der Monsterwelle abgezählt wurden.
»Sir, die Erdstationen melden, dass ihre Schilde ebenfalls stehen.«
Killian nickte nur. Sein Blick wanderte unruhig zwischen der Uhr und den Bildschirmen hin und her. Die Staubwolken auf dem Mondboden wurden dichter, die Bilder erzitterten immer stärker. Täuschte er sich, oder vibrierte inzwischen sogar der Boden unter seinen Füßen?
»Alle Relaisstationen melden volle Einsatzbereitschaft.« Killian bemerkte nicht die fehlende Anrede des jungen Mannes. Die Station erbebte inzwischen und nur mit Mühe konnte er sich am Sitz des Technikers festhalten. Das war wirklich eine Monsterwelle, und sie kam genau … jetzt!
Ein Schlag riss Killian beinahe von den Füßen. Alarmglocken schrillten durch die Station. Hektisch sah er sich um, ob auf der in der Zentrale nichts zu Bruch gegangen war.
»WOW!«
Der Ausruf des Technikers riss ihn aus seinen Gedanken.
»WAS?«, herrschte Killian. Das Beben hatte nachgelassen und er konnte fand wieder zu seiner alten Fassung zurück.
»Entschuldigung, Sir. Die Welle hat irgendetwas mitgerissen, das auf direktem Kollisionskurs mit uns war, Sir. Was es auch gewesen sein mag, es ist entweder am Schirm zwischen den Kräften zerrissen oder weit auf einen Kurs weit jenseits des Systems hinausgeschleudert worden.«
»Irgendwelche Schäden?«
»Nein, Sir. Dafür war das Objekt zu klein.«
»Ist etwas zur Erde durchgekommen?«
»Nein Sir. Deren Schilde waren ebenfalls schnell genug oben.«
»Gut. Rufen Sie mich, wenn wir vom Wissenschaftskommissariat Meldung bekommen. Bei allen Sonnen, ich will wissen, was das für eine Monsterwelle war und warum die so eine Wucht hatte. Und achten sie auf die Rückwelle.« Killian wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die wird zwar weniger heftig, dennoch ...«
»Ja, Sir. Verstanden, Sir.«
»Weitermachen, Techniker Beard.«
***
In der kleinen Stationsküche war es still. Nur das Summen der Lichtröhren war zu hören. Ihr Licht ließ die Figuren kleine Schatten auf das verlassene Schachbrett werfen. Der Reinigungsrobot stand still neben dem Tisch, so als würde er auf einen weiteren Joint warten. Hanc´s Stimme erklang.
»Welchen Zug planst du als nächstes, Sal? Wie glaubst du, dass du meine Verteidigung durchbrechen kannst? Vielleicht mit Dame A-5? Oder Turm D-1?« Ein elektronisches Seufzen folgte. »Du fehlst mir Sal. Komm schnell zurück, du letzter Wellenläufer.«
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Keiner von uns kommt hier lebend raus! Also hört auf, euch wie Andenken zu behandeln. Esst leckeres Essen, spaziert in der Sonne, springt ins Meer, sagt die Wahrheit und tragt euer Herz auf der Zunge. Seid albern, seid komisch. Für nichts anderes ist Zeit.
(Sir Philip Anthony Hopkins)
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Re: Ein frohes Fest euch allen :)
Danke für dein Weihnachtsgeschenk an uns, D.J..
Ich selbst werde es wahrscheinlich erst zwischen den Jahren angemessen würdigen können, aber darauf freue ich mich schon!
Auch an dieser Stelle noch mal von mir frohe Weihnachten (an alle)
Ich selbst werde es wahrscheinlich erst zwischen den Jahren angemessen würdigen können, aber darauf freue ich mich schon!
Auch an dieser Stelle noch mal von mir frohe Weihnachten (an alle)
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Cut als Spielerezensent:
Der Spieleblog für den ich geschrieben habe - www.weiterspielen.net - über STAW und mehr...!
Der Spieleblog auf dem ich aktuell poste: StarTrek-AttackWing.de
Re: Ein frohes Fest euch allen :)
Wow, ich hoffe du musstest das nicht alles tippen?
Ist eine tolle Story.
Wenn der Ausgang auch traurig ist, der Wellenläufer hat so vielleicht sein gewünschtes Ende gefunden.
Ist eine tolle Story.
Wenn der Ausgang auch traurig ist, der Wellenläufer hat so vielleicht sein gewünschtes Ende gefunden.
CmdGreen- Anzahl der Beiträge : 1512
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Re: Ein frohes Fest euch allen :)
Cut schrieb:Danke für dein Weihnachtsgeschenk an uns, D.J..
Ist ein kleines Danke an die Community hier
Freue mich schon auf das kommende Jahr mit euch allen hier
CmdGreen schrieb:Wow, ich hoffe du musstest das nicht alles tippen?
Ging alles per Copy&Paste²
Danke dirCmdGreen schrieb:Ist eine tolle Story.
Wenn der Ausgang auch traurig ist, der Wellenläufer hat so vielleicht sein gewünschtes Ende gefunden.
²Nachtrag:
Bevor Fragen bezüglich des Copyrights oder so aufkommen:
Ich kenne den Autor, habe ihn gefragt und das Einverständnis dafür bekommen, die Story hier zu posten
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Re: Ein frohes Fest euch allen :)
Danke. Schöne Feiertage euch allen.
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